Eine Türkische Familie im Englischen Garten

von André POLO Poloczek, 2002

{nebst behutsam eingepassten Anmerkungen von Peter P. Neuhaus, 2014}

Bernstein selbst nennt es „Fress-Seminar mit Zeichenpausen“. „Bernsteins Zeichenschule an der Eider“ nennt es der Veranstalter und mir fehlen für diese Veranstaltung einfach die Worte. Die, die sich hier zum Auf- und Abzeichnen treffen, kommen aus der ganzen Republik. Die geographischen Eckpunkte sind: München im Süden, Rendsburg im Norden, Berlin im Osten und Aachen im Westen. Sie haben Berufe von A wie Architekt bis Z wie Zahntechniker. Seit 1990, regelmäßig in der letzten Augustwoche*, kommen sie im Nordkolleg Rendsburg, der ehemaligen Heimvolkshochschule, zusammen.

{*Warum eigentlich in der letzten Augustwoche? Der September z.B. ist doch ebenfalls zeichenbar. Dazu gibt es unterschiedliche Theorien. Zum einen versucht man wohl, die Ferienkalender der Bundesländer abzugleichen, um einen passenden Termin zu finden. Zum anderen ist das Seminar sowieso nur in der letzten Augustwoche möglich, denn dann ist schließlich Goethes Geburtstag – und das ist ja schon Grund genug.}

Es ist ein Treffen, das seinesgleichen sucht und gar nie findet. Es werden legendäre Malzeiten eingenommen; und man darf eher mit vergessenem Zeichenutensil (kann man sich leihen) anreisen, denn mit einem nicht einwandfrei funktionierenden Verdauungsapparat. Fahrradtouren gleichen den Bewegungsmangel aus (Fahrräder kann man sich auch leihen) und Freibadbesuche sorgen für karminrote Chlor-Marmorierungen in den Augen, in denen sich am dritten Tag auch ein gewisser Mangel an Nachtschlaf abzeichnet. Abzeichnet, genau! Gezeichnet wird, was Stifte und Pinsel hergeben: Boote und Schiffe auf dem Nord-Ostsee-Kanal, Leute, Häuser, Sensationen, Komisches und Krakeliges, Sensibles und Grobes, Großes und Kleines. Für die kleinen Formate reichen die Tische in den Seminarräumen, und am Montag nach dem Mittagessen* (also vor dem Kaffeetrinken) ist alles noch einigermaßen sortiert: Zeichenblöcke, Aquarell- und Tuschetöpfchen, Pinsel, Papierwischer, Zeichenkohle, Federhalter, Stifte, Schmirgelpapier, zwei- und dreidimensionale Zeichenvorlagen. Für den großen Schwung braucht’s großformatiges Papier. Zu Seminarbeginn ein gut bestücktes und geordnetes Zeichenzeughaus. Doch schon wenig später haben „des legendären Commandante Bernsteins Dessinados“, als solche bezeichnet Robert Gernhardt die Gemeindemitglieder in seinem Buch „Der letzte Zeichner“, ein gutes Stück Arbeit geleistet, um der Chaos-Theorie zu ihrer kreativen Dimension zu verhelfen.

{*Montags nach dem Mittagessen – in den Anfangszeiten nahm das Seminar zu diesem Zeitpunkt Fahrt auf. Mittlerweile beginnen wir bereits Samstag VOR dem Abendessen und reisen erst am Sonntag drauf NACH dem Mittagessen wieder ab. Das Seminar wurde über die Jahre immer wieder verlängert – wann soll man denn das alles sonst essen?}

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Bald verschwinden die Tischkanten unter aquarellierten Blättern, werden überlagert von Zeichenbogen und Farbkästen. Und das, obwohl die ersten Arbeiten ihren Platz schon an den Wänden haben. Es wird eng auf den Zeichentischen.*

{*So einen überquellenden Zeichentisch, den man sich oft auch noch zu zweit teilen muss, um eine Woche lang Ellbogen an Ellbogen Blätter vollzusudeln, haben wir zur Feier der 20. Wiederkehr im Rahmen einer Ausstellung im Rendsburger Stadtmuseum mal der Öffentlichkeit präsentiert. Da haben sich aber viele Besucher gewundert, wie man so beengt derart weiträumig zu zeichnen in der Lage ist. Und dabei waren all die Bier-, Wasser- und Weinflaschen, die sich während der Zeichenwoche auf dem Tisch ansammeln, nicht mal mit ausgestellt … }

Darum wird bei schönem Wetter (es darf nur nicht regnen) draußen gezeichnet; auf dem Rasen vor dem Börnsen-Haus* (das ist die Hauptspielstätte des grafischen Teils) in sitzender, hockender, auch mal in liegender Körperhaltung.

Natürlich auch im Stehen, denn der standfeste Aufbau einer Feldstaffelei gehört zum quasi-grafischen Rüstzeug. Für’s Leute-Zeichnen haben wir denkmalähnliche Kleingruppen als Modelle Aufstellung nehmen lassen. Musikalisch begabte Gemeindemitglieder haben zu solchen Inszenierungen gelegentlich Musikinstrumente mitgebracht, und das visuell wohl schon ungewöhnliche Ensemble um Posaunenklänge, Gitarrenakkorde, sowie an- und abschwellende Klänge von einem chinesischen Gong bereichert. Fritz lässt sich seit Jahren die Haare schneiden – „open-hair“- auf dem Rasen vor dem Böhrnsen-Haus*. Ein immer wieder gern gesehenes Zeichenmotiv. Solche Szenerien mögen auf Außenstehende dann einen befremdlichen Eindruck machen – für die Gemeindemitglieder selbst ist es alles andere als befremdlich. Die sind unter Ihres gleichen und nichts kommt ihnen merkwürdig, kurios oder schrullig vor.

{*Ja ja, das Böhrnsen-Haus. Jahrelang haben wir traditionell dort getagt, haben sogar für den uns völlig unbekannten Herrn Böhrnsen eine Nachdichtung seiner Biografie begonnen … und 2013 wurde dann nachträglich bekannt, dass eben jener Böhrnsen bei der Bücherverbrennung der Nazis ganz vorn mit dabei war. Das Nordkolleg hat umgehend und richtig gehandelt: Dieser Name hat keinen Platz. Nirgends. Eine historisch einmalige Gelegenheit für uns: Zum 2013er Sommerfest des Nordkollegs wurde das Haus bereits symbolisch und auch praktisch in BERNSTEIN-Haus umbenannt. Der Rest ist Geschichte: Der Name bürgert sich seither im offiziellen Sprachgebrauch ein, er ist auch bei den MusikerInnen des Hauses wegen der Sommerakademie des Schlewig-Holstein-Musikfestivals (mitinitiiert von Leonard Bernstein) sehr beliebt – und seit dem Sommer 2014 ist das Haus nun offiziell nach den Meistern benannt.}

Exkurs: „Fritz, soll ich hier dran noch was machen?“ Es ist „Bernsteins Zeichenschule“* und wenn man sich grafisch oder in Fragen der Malerei nicht ganz sicher ist, ist da der „Chef“. Ehrlich, wir nennen ihn „Chef“ und der Chef weiß Rat. Er ist Zeichenlehrer und Pastor, Kenner und Könner, Gucker und Macher; er ist Erster unter Gleichen.

{*Seit Jahren schon Jahren trägt das Seminar den Namen „Grafisches Trainingslager“. Denn F.W. Bernstein hat seine Lehrtätigkeit hier nach 13 Jahren beendet. Seufz! Aber er hat uns mit Nachfolgern versorgt, die ebenfalls nicht verhindern konnten, dass das Seminar zu dem wurde, was es heute ist. Zunächst hat er uns an Bernd Stolz übergeben, einen Zeichenfreund und -lehrer aus Stuttgart. Danach wurde Tom Breitenfeldt von den Göttern ausgesandt, uns zu zähmen und zu bändigen. Das gelingt ihm seit einigen Jahren sehr gut. Merke: Wo F.W. Bernstein die Basis legte für beinah Alles und Jedes, da arbeiten wir gemeinsam weiter und weiter und weiter … }

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Und wenn sich der princeps inter pares draußen die Haare schneiden läßt, seine Zeichnerinnen und Zeichner ihre Spuren auf allen möglichen Zeichengründen hinterlassen und dazu auch noch Einer auf dem Didgeridoo, der Holztrompete der australischen Ureinwohner, bläst, dann mag man die Einschätzung verstehen: „Ihr wirkt, wie eine türkische Familie im Englischen Garten!“ Das hat mal einer gesagt, der es wissen muß, und er hat ja sogar noch untertrieben (Aber das mit der Familie stimmt. Bernsteins Zeichenseminar war ehestiftend* und diesem Paar verdankt die Gemeinde ihr jüngstes Mitglied. Ein Mädchen. Zeichnerisch hochbegabt. Der Glücklichen hat die gesamte Rendsburger Riege in die Wiege gezeichnet.)

{*Auch war das Seminar bücherstiftend: Denn hier trafen z.B. POLO und Ari Plikat aufeinander, die in der Folge einige gemeinsame Buchprojekte aus dem Boden stampften. Und das Seminar war Lesungen stiftend: Hier begegneten sich Tibor Rácskai und Peter P. Neuhaus und beglücken die Welt seit einiger Zeit mit Lesungen komischer Texte. Ebenfalls war das Seminar sinnstiftend: Wer als Steinmetz zum ersten Mal anreiste, ist mittlerweile Lehrer, und aus einem Schreiner wurde in jahrlanger, behutsam betreuter Metamorphose ein hervorragender Illustrator und Grafiker beim Bayrischen Rundfunk. Und das sind nur einige Beispiele …}

Ich habe diese Rendsburger Riege vorhin die „Gemeindemitglieder“ genannt. Die „Zeichengemeinde“ – eine Wortfindung vom „Chef“. Tatsächlich sind die TeilnehmerInnen in Treu und Glauben fest, da nämlich, wo sie etwas gemeinsam haben. Die Gemeinde ist offen für neue Mitglieder. Aber auch nicht offener, als es türkische Familien sind. Wenngleich sich die Kriterien für die grafische Gemeindemitgliedschaft und die Aufnahme in eine türkische Familie deutlich voneinander unterscheiden. Hauptkriterium: Man muss es einfach mögen, was da alljährlich an Verrücktheiten, kreativem Chaos und zeichnerischem Wust entsteht. Und man muss mögen, wie es entsteht: spielerisch und besessen zugleich.

Andre POLOczek
Haan, am 12.11.2002, behutsam korrigiert am 10.08.2014 {und mit Anmerkungen versehen am 24.8.2014}